Kultur- und Heimatverein

 Falkensteiner Vorwald e.V.

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Wie Sagen entstehen

Vortrag von Heinz Glashauser
am 11.03.2010 beim 60. Stammtisch
des Kultur- und Heimatvereins Falkensteiner Vorwald e.V.

Foto: Anton Feigl

Das Grimmsche Wörterbuch spricht von der „kunde von ereignissen der vergangenheit, welcher einer historischen beglaubigung entbehrt“ und spricht von „naiver geschichtserzählung und überlieferung, die bei ihrer wanderung von geschlecht zu geschlecht durch das dichterische vermögen des volksgemüthes umgestaltet wurde.“ Wenn man diese Definition verkürzen und vereinfachen will, kann man feststellen, dass Sagen geschichtliche Ereignisse sind, die sich im Gedächtnis der Bevölkerung verankert haben.

In der Regel kann der geschichtliche Kern, auf dem eine Sage beruht, nicht mehr festgestellt werden, sodass man hier auf Vermutungen und Interpretationen angewiesen ist. Die Gebrüder Grimm sprechen von Ereignissen der Vergangenheit, welchen einer historischen Beglaubigung entbehrt. Wie will man also in Erfahrung bringen, wie Sagen entstehen, wenn man den geschichtlichen Hintergrund nicht mehr ermitteln kann? Wir werden heute am Beispiel einer Sage aus meinem Heimatort Schönberg feststellen können, wie gut die Definition der Gebrüder Grimm den Gehalt einer Sage trifft.

Es handelt sich um eine Sage, die mir mein Vater schon erzählte, als ich noch ein Kind war. Es ist die Sage von der „Wecklin von Rammelsberg“. Rammelsberg ist sozusagen ein Ortsteil von Schönberg. Auf dem höchsten Punkt dieses Ortsteiles stand früher ein Schloss, in dem die Wecklin gewohnt haben soll. Von diesem Schloss sind nur noch die Reste eines Turms erhalten. Über die Weklin gibt es sozusagen eine Kernsage und um diese Kernsage ranken sich noch kleinere Sagen.

Warum nehmen wir diese Sage als Ausgangspunkt unserer Betrachtungen? Erstens, weil sie in meinem persönlichen Gedächtnis durch die Erzählung meines Vaters stark verankert ist und zweitens, und dies ist der wichtigste Grund: auf sie trifft die Aussage der Gebrüder Grimm „Sagen entbehren einer historischen Beglaubigung“ nicht zu. Sie stellt eine der wenigen großen Ausnahmen dar, in dem sich der historische Hintergrund auch geschichtlich belegen und verfolgen lässt.

Ein gewisser Hermann Wagner hat versucht, die Sagengestalt der Wecklin historisch zu belegen und er ist auch fündig geworden. In dem Buch „Hexen, Druden und Durandl“ wurden die verschiedenen Versionen der Sage berichtet, und gleichzeitig wird auch der geschichtliche Hintergrund in einem gesonderten Kapitel besprochen. Ich habe den geschichtlichen Teil gekürzt und nur die wichtigsten Fakten zusammengefasst. Wer sich näher damit beschäftigen will, dem sei das Buch dazu empfohlen.

Was mich als Kind schon besonders interessierte waren die Fragen:

·        Wer war die Wecklin?

·        Wie sah das Schloss Rammelsberg aus?

·        Warum ist von dem Schloss nichts mehr zu sehen?

·        Wie sah die Wecklin aus?

Fast 50 Jahre später entschlüsselten sich mir die meisten dieser Fragen. Die erste Frage wurde durch die Nachforschungen von Hermann Wagner beantwortet. Die zweite Frage entschlüsselte sich mir mit Hilfe des Internets und die Antwort auf die dritte Frage fand ein Schüler von mir auch mit Hilfe des Internets. Nur die 4. Frage bleibt wohl für immer im Dunkeln: Wie sah sie aus? Es gibt weder ein Bild noch eine Zeichnung von ihr. Die Sage berichtet jedoch davon, dass sie eine schöne Frau war. Es war offensichtlich nur eine äußere Schönheit, über ihre innere Schönheit weiß die Sage nur Negatives zu berichten. So schön wie sie äußerlich war, so hässlich sollen ihre inneren Werte gewesen sein. Sie war offensichtlich so boshaft und egozentrisch, dass sie auch nach 300 Jahren noch den Schönbergern ein Begriff ist.

Aber nun zur Sage oder besser gesagt zu den verschiedenen Versionen der Sage:

„Die böse Wecklin I“

(Die Sagen stammen aus dem Buch „Hexen, Druden und Durandl“ von Hans Schopf.)

„Sie sei ein Bauernmensch gewesen in einem Dorf der Herrschaft Rammelsberg, sei sehr hübsch gewesen und dem jungen Herrn zu Gefallen gegangen, bis er sie geheiratet habe. Dann aber sei sie sehr hartherzig gewesen, wegen ihres Geizes weit und breit verrufen, abweisend gegen Arme und grausam gegen Untertanen und Ehhalten (Dienstboten). Sie sei aber bald gestorben, und als man sie zur Beerdigung nach Schönberg getragen habe, sei der Sarg so schwer gewesen, dass die Träger ihn kaum schleppen konnten. Als der Leichenzug dann an der großen Linde vor Schönberg vorbeigekommen sei, habe sich aus ihren Ästen eine Schar krächzender Raben auf den Sarg heruntergestürzt. Und als sie wieder fort geflogen seien, sei die Totenlade auf einmal ganz leicht gewesen.“

„Die böse Wecklin II“

Auf einer der Burgen außerhalb Grafenaus hat vor gar nicht so langer Zeit eine Schlossfrau gewohnt, die es ihren Dienstboten nicht gerade zum Besten gehen ließ. Dafür wurde sie verflucht, so dass sie nach ihrem Tode umgehen müsse. Sicher glaubten die Leute auch, dass sie des Teufels Gefährtin geworden sei, weil sie bald nach ihrem Tode angefangen hatte, den Leuten Böses zu tun. Dazu hat sie die Menschen oft erschreckt und genarrt. Verschiedene geistliche Herren haben versucht, sie zu bannen, aber keinem ist es gelungen. Erst Papst Pius IX. konnte sie in die dunklen Rachelhänge verbannen, wo sie sich heute noch aufhalten soll. Seit der Zeit kann man vom Rachel bis nach Waldhäuser und zum Lusen ihre Untaten verspüren. Gar mancher hat es nicht geglaubt, dass sie da herumgeistert, bis er doch ihre Bekanntschaft gemacht hat. Auch Fremden ist es schon so ergangen. Zuerst haben sie gelacht, aber später nicht mehr, will sie sich verlaufen haben.

Am meisten konnten natürlich die Holzhauer von ihr erzählen, von dem Laubhaufen, in dem eine Kröte raschelt und herumstiert, die sie nie fangen konnten, von den grellen Pfiffen, bald nahe, bald ferne, die das Vieh erschreckte und verängstigte. Von Schlägen, die sie mit unsichtbarer Hand bekamen, von rätselhaften Unglücksfällen im Stall und bei der Arbeit, von verdorbenem Essen und Getränken. Bald soll die Zeit um sein, 99 Jahre, die sie in die Rachelwand verbannt war, dann soll sie wieder anderswo auftauchen können. Gnade Gott denen, auf die sich der Zorn oder der Missmut ihrer Zauberkräfte richtet.“

„Die geizige Gräfin von Rammelsberg“  (Wecklin III)

Etwa eine Viertelstunde vom Markt Schönberg entfernt sind auf einem Hügel die Überreste des Schlosses Rammelsberg zu sehen. Früher, als noch eine stattliche Burg die Anhöhe krönte, lebte darin der Graf Wecklin mit seiner Gemahlin, die weit und breit wegen ihres Geizes verrufen war. Wenn ein Armer um Almosen anklopfte, wurde er von der Gräfin barsch abgewiesen. Die Überbleibsel der reichen Tafel ließ sie lieber an die Schweine verfüttern, als den Notleidenden zu schenken. Eines Tages stieß sich die Schlossfrau einen rostigen Nagel in den Finger, der ihr das Blut so arg vergiftete, dass sie alsbald verschied.

Der Sarg wurde auf einen Wagen gelegt und zwei Pferde davor gespannt. Als aber das Gespann am Fuße des Friedhofberges angelangt war, ging es keinen Schritt mehr weiter. Man setzte zwei noch kräftigere Pferde ein, aber auch jetzt stand das Fuhrwerk wie festgebannt. Selbst sechs Rosse vermochten den Wagen nicht von der Stelle zu bringen. Plötzlich flog ein Rabe heran und setzte sich auf den Sarg; nun rannten die Pferde wie rasend den Berg hinauf. Als man aber den Sarg vom Wagen hob, war er federleicht und als man ihn öffnete, war er zum Entsetzen und Erstaunen aller leer. Nur die Leichentücher lagen drinnen.

Einige Wochen später sahen die Mägde, welche das Vieh fütterten, die Gräfin mitten unter den Schweinen sitzen und weinen. Als man das dem Grafen meldete, ließ er einen prächtigen, goldverzierten Futtertrog anfertigen und mit den köstlichsten Speisen füllen. Auch Tücher zum Abtrocknen der Tränen wurden in den Stall gehängt. Jedoch die Gräfin saß wieder unter den Schweinen und kein Tränentüchlein war benetzt.

Nun rief der Graf einen Einsiedler zu Rate, der in Lueg hauste. Dieser verbannte die Gräfin in den Rachelsee. Ehe sie aus dem Stall verschwand, bat sie noch: „Bringt mir jedes Jahr ein paar eiserne Schuhe an den Ort meiner Verbannung! Ich muss noch weiter büßen für meinen Neid“.

Von der Stunde an ging der Geist der Gräfin am Rachelsee um und erschreckte die Menschen, die sich an den See verirrten. Alljährlich stellte man ihr an das Ufer des Sees die gewünschten Schuhe. Seit langem aber ist die Wecklin verschwunden. Ob sie wohl erlöst ist?“

(Karl Wolf, Heimatkunde Arbeitskreis der Lehrerschaft des Landkreises Grafenau, April 1959)

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An diesen drei Versionen der Sage, sieht man gut, wie sich historische Fakten mit der Phantasie der Bevölkerung mischen.

Hört sich die erste Sage noch recht sachlich an (..der Sarg sei so schwer gewesen, dass die Träger ihn kaum schleppen konnten), so wird in der dritten Version schon kräftig augemalt: Zwei Pferde konnten den Sarg nicht mehr ziehen, auch vier oder gar sechs Pferde schaffen es nicht. Außerdem holt der Rabe nicht nur die Seele der Wecklin, nein der Sarg ist leer, auch der Körper ist verschwunden.

Die zweite Version beschäftigt sich mit dem Leben der Wecklin nach ihrem Tode. Es ist klar, dass so eine böse Frau nach ihrem Tode noch als Geist umgehen müsse und die Leute erschrickt. Wird in der einen Version noch ein Einsiedler aus Lueg (ein Dorf in der Nähe von Schönberg – auffallend der Name Lueg: Lug war ein keltischer Gott) herangezogen, der den Geist bannen kann, so muss es in der anderen Version gleich ein Papst sein: Papst Pius IX. (Übrigens war er von 1846-1878 Papst. Dies könnte auch ein Hinweise darauf sein, dass die 2. Version der Sage erst ca. 100 Jahre nach dem Tode der Wecklin entstand. Diese starb ja 1772.)

So beschäftigt eine Frauengestalt über Jahrhunderte hinweg die Bevölkerung.

Nun zu den historischen Fakten:

Was geschichtlich über die Wecklin nachgewiesen werden kann (nach den Forschungen von Hermann Wagner):

Auf dem Rammelsberg saßen seit 1572 die ersten direkten Vorfahren der Wecklin, die Freiherren Tengler von Ried

Die Mutter der Wecklin wurde am 13. Mai 1680 getauft. Sie war verheiratet mit Johann Ulrich Baron von Drexel. (Auf dem Marktplatz von Schönberg befindet sich eine Nepomukfigur, auf der sein Name mit der Jahreszahl 1737 steht.)

Der Baron Drexler und die Tengler-Tochter hatten drei Kinder:

Johann Theodor                               geboren etwa 1703
Maria Maximiliana Genoveva         geboren am 26. Februar 1712
Maria Josefa                                    geboren 1714

Diese Maria Maximiliana Genoveva, geboren 1712, war die spätere „Wecklin“. Der Bruder Johann Theodor kam im Alter von 23 durch einen Unglücksfall ums Leben. Die Wecklin heiratate einen Hauptmann, der es bis zum Generalmajor brachte und Stadtkommandant von Straubing war. Dieser Hauptmann hieß Johann Baptist Valentin von Weickel (daher der Name Wecklin).

Da er kaum zuhause war und auch nichts von der Landwirtschaft verstand, musste die Wecklin das Bewirtschaften des Schlosses Rammelsberg und dessen Ländereien übernehmen. Sie hatte aber davon keine Ahnung.

Leider soll sie sehr starrsinnig gewesen sein und ließ sich nichts sagen (das Getreide wurde oft zu spät angesät oder auch zu spät geerntet, so dass die Erträge schlecht waren). Von den umliegenden Gehöften konnte sie Dienstmägde und Knechte verlangen, von denen aber keiner gerne bei ihr arbeiten wollte, weil sie so geizig und hartherzig war. Sie zahlte weniger Lohn als die Bauern in der Umgebung.

Bei den Bauern brauchten Knechte und Mägde an Sonn-und Feiertagen nicht zu füttern. Die Wecklin bestand darauf und Knechte und Mägde mussten dableiben. Auch das Essen war sehr kärglich. Als Liegestatt bekamen Knechte und Mägde leeres Stroh und eine Decke zum Zudecken. Es wird berichtet, dass eher ein Bauer drei Dienstboten bekam als die Wecklin einen.

Sie fand auch nichts dabei von einem Bauern seinen einzigen Sohn als Knecht zu verlangen, sodass dieser auf eigene Kosten wieder einen anderen Knecht einstellen musste. Einmal ließ sie an Weihnachten gleich vier Dienstboten einsperren. Sie wollten lieber dem ärmsten Bauern dienen als der Wecklin.

Sie stritt mit allen und versuchte ihren Kopf durchzusetzen bis an ihr Lebensende. Dieses kam am 4. Juni 1772. Sie starb und wurde in Schönberg beerdigt. Man kann sich nun vorstellen, dass kaum jemand ihr eine Träne nachweinte. Dass aber die Seele eines Menschen, der seine Mitmenschen so drangsalierte, nach seinem Tode vom Teufel geholt werden müsse, war für die Bevölkerung selbstverständlich. Dass sie, den Sagen nach, auch nach ihrem Tode noch als Spuk umging und die Leute erschreckte, zeigt wie verhasst und gefürchtet sie zu Lebzeiten war.

Übrigens das Schloss Rammelsberg wurde 1830 vom Blitz getroffen, brannte ab und wurde nicht wieder aufgebaut.

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Kehren wir zurück zum Anfang: Wie definierten die Gebrüder Grimm die Sagen?

Sagen sind „kunde von ereignissen der vergangenheit welcher einer historischen beglaubing entbehrt . . . und eine naive geschichtserzählung und überlieferung die bei ihrer wanderung von geschlecht zu geschlecht durch das dichterische vermögen des volksgemüthes umgestaltet wurde…“

Kurz gesagt:  Sagen sind das geschichtliche Gedächtnis der Bevölkerung.

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Bildmaterial zum Schloss Rammelsberg bei Schönberg:

    1.     Der Markt Schönberg heute

 

     2.     Der Markt Schönberg, wie er zur Zeit der Wecklin aussah
     (Stich von Michael Wening aus dem Jahre 1726)

 

 

    3.     Schloss Rammelsberg zur Zeit der Wecklin (Stich von Michael Wening aus dem Jahre 1726)

 

 

    4.     Der Rest von Schloss Rammelsberg
    (Das Schloss brannte 1830 durch einen Blitzschlag ab und wurde nicht wieder aufgebaut)

 

 

 

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